Out of the Box – die Midlife Crisis der Digitalen Revolution
von Redaktion,
Seit 1979 begleitet, antizipiert und analysiert Ars Electronica die digitale Revolution, ihre Ursprünge, Erfolge und Irrwege. Beim Festival für Kunst, Technologie und Gesellschaft stand und steht dabei stets die kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung neuer technischer und wissenschaftlicher Entwicklungen im Mittelpunkt. 2019 feiert die Ars Electronica ihren 40. Geburtstag und richtet den Blick naturgemäß nach vorn. Unter dem Motto „Out of the Box – die Midlife Crisis der Digitalen Revolution“ begibt sich das Festival 2019 auf eine Expedition zur künstlerisch-wissenschaftlichen Vermessung unserer modernen techno-ökonomisch geprägten Welt, fragt nach unseren Zukunftsperspektiven und Handlungsoptionen.
(Bild: Ars electronica /Emiko Ogawa)
Gemeinsam mit KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen, IngenieurInnen, DesignerInnen, TechnologInnen, Entrepreneurs und Social Activists aus der ganzen Welt lädt Ars Electronica von 5. bis 9. September zu Konferenzen, Podiumsdiskussionen, Workshops, Ausstellungen, Performances, Interventionen und Konzerten. Zentraler Schauplatz dieses 5-tägigen Programms ist zum letzten Mal die POSTCITY am Areal des Linzer Hauptbahnhofs. Von hier führt die Festivalmeile wieder quer durch die gesamte Innenstadt und macht Halt im Linzer Mariendom, im OK im OÖ Kulturquartier, in der Kunstuniversität Linz, im LENTOS Kunstmuseum, dem Donaupark, in der Stadtwerkstatt, im bis dahin komplett neu gestalteten Ars Electronica Center und in der Anton-Bruckner-Privatuniversität. Der Festival-Samstag wartet dieses Jahr mit einer besonderen Attraktion auf: einem Ausflug ins Stift St. Florian.
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(Bild: Ars Electronica)
Das Festival-Motto „Out of the Box“ hat mehrere, sehr unterschiedliche Bedeutungen. Zum einen werden damit vorgefertigte, sofort einsatzbereite Produkte bezeichnet. Genau das also, was man uns heute in Gestalt konsum- und spaßorientierter Geräte und digitaler Social Media-Welten feilbietet. Vor eleganten Glastempeln stehen wir Schlange, um unnötig teure Geräte zu kaufen, die wir dann genau so zu benutzen haben, wie es jener Konzern vorsieht, der sie auf den Markt bringt. Nicht einmal den Akku können wir selbst wechseln. Auch das Recht zu bestimmen, wofür und von wem all die Daten und Informationen verwendet werden, die anfallen, sobald wir diese Geräte benutzen, hat man uns genommen. Was als Traum von einer einfach und von jeder/m zu nutzenden Technologie begonnen hat, ist längst zum Alptraum einer digitalen Hundeleine geworden, für die wir auch noch saftige Preise zahlen. Wie schon so oft, bewirkt der wirtschaftliche Erfolg einen Niedergang der Kreativität und Innovationskraft. „Out of the Box“ kommen schon lange keine neuen, nutzenstiftenden Features mehr, sondern bloß das immer Gleiche in stets anderer Verpackung. Diesem sehr ernüchternden „Out of the Box“ der Wirtschaft steht die charismatische Ikone der Start-up- und Innovationswelt gegenüber. Hier steht „Out of the Box“ für das Neue, das Disruptive. Es geht um neue Pfade und das Denken gegen alle Konventionen. Es geht um nichts weniger als die Welt neu zu erfinden – oder zumindest gewinnbringende Produkte und Dienstleistungen… „Out of the Box“ erinnert aber auch an die sprichwörtliche Büchse der Pandora. Ein Gedanke, der sich angesichts der vielen, aktuellen Probleme unserer High-Tech-Lebenswelt immer öfter aufdrängt. Doch ganz egal, welche dieser Lesarten wir bevorzugen, in jedem Fall müssen wir alle „Out of our Boxes“. Wir müssen raus aus der Deckung, raus aus der Komfortzone, raus aus unseren Bubbles, raus aus unserer Ignoranz. Wir müssen raus aus der irrigen Meinung, dass wir uns um die Verantwortung für die Gestaltung der Zukunft drücken könnten.
Als Ars Electronica Ende der 1970er in Linz erdacht und ins Leben gerufen wurde, war die digitale Revolution zwar schon eine technologisch ernstzunehmende Größe, darüber hinaus aber weitgehend unbekannt. Gerade einmal 10 Jahre zuvor waren erstmals vier Computer an unterschiedlichen Standorten im Westen der USA zu einem Netzwerk zusammengeschaltet worden. Völlig im Schatten des spektakulären, alles überstrahlenden Apollo-Programms.
Doch 1978 kommen mit dem Apple II und einigen anderen Geräten die ersten leist- und brauchbaren Desktop Computer auf den Markt und 1981 nennt IBM sein neues Modell „Personal Computer“, kurz PC. Mit dieser „Personalisierung der Computer“ beginnt eine neue, folgenschwere Phase der Digitalisierung, die aus Datenzentren der Großrechner und Forschungslaboren hinaus in unsere Welt, in unseren Alltag, vordringt.
1989, zehn Jahre nach der ersten Ars Electronica, entwickeln Tim Berners Lee und Robert Cailliau dann die Grundlagen für das World Wide Web, stellen sie frei zur Verfügung und treten damit die größte technologische Lawine aller Zeiten los. Man könnte die jetzt einsetzende Entwicklung die „Sozialisierung der Computer“ nennen, in deren Folge bis heute rund 4,5 Milliarden Menschen aus aller Welt ans Internet angeschlossen werden.
Ein vergleichsweise kümmerliches Dasein fristet in all diesen Jahren Artificial Intelligence. Abgesehen von kurzen Hypes und dem immer interessanten Nervenkitzel dystopischer Science Fiction-Romane und -Filme, blieb sie ihre Versprechungen stets schuldig. Das hat sich nun schlagartig geändert. Exponentiell gestiegene Rechenleistung und massenhaft verfügbare Daten bescheren vor allem dem Machine Learning durchschlagende Erfolge und machen AI – doch noch – zum nächsten Gamechanger. Denn während die Digitalisierung bislang bloß unsere industrielle Welt und ihre Prozesse erfasste, bahnt sich nun etwas völlig Neues an: die Digitalisierung des Denkens und Entscheidens. Und wenngleich wir noch weit entfernt sind von selbstständigen, von starken oder generellen Künstlichen Intelligenzen, beginnen wir den digitalen Systemen eine neue Eigenständigkeit zu verleihen. Der nächste Schritt, so scheint es, führt von der Automatisation zur Autonomisation.
Abermals stehen wir also staunend und ängstlich vor alledem und fragen uns, was daraus entstehen könnte. Was wir in den letzten 40 Jahren hoffentlich gelernt haben ist, dass wir diese Entwicklung nicht den Technologiekonzernen alleine überlassen dürfen! Es ist die aktuelle Midlife-Crisis der digitalen Revolution, die wir dazu nutzen müssen, unsere Fragen an die Zukunft neu zu formulieren und uns nicht nur dafür zu interessieren, was technologisch möglich ist, sondern was wir mit Technologie überhaupt tun wollen. Und was nicht.